Zur Geschichte der Elekronenmikroskopie
aus "Elektronenmikroskopie" von Karl G. Lickfeld, UTB-Verlag 1979
 
In den zwanziger Jahren leitete A. MATTHIAS das Hochspannungslaboratorium der Technischen Hochschule zu Berlin. Die dort durchgeführten Arbeiten bezogen sich u. a. auf die Entwicklung von Elektronenstrahloszillographen mit sehr hoher Aufzeichnungsgeschwindigkeit. Solche Geräte wurden und werden für die Untersuchung von Stoßwellen benötigt, die beispielsweise auftreten wenn eine Überlandleitung von einem Blitz getroffen wird. Mitarbeiter der seit 1928 von M. KNOLL geleiteten Arbeitsgruppe für derartige Oszillographen wurden einige Doktoranden, unter ihnen B. v. BORRIES, Diplomanden, sowie der Student E. RUSKA. 

Wenige Jahre zuvor, 1924, hatte L. DE BROGLIE in seiner Doktorarbeit für das sich bewegende Elektron die Eigenschaften einer Welle gefordert, hatte H. BUSCH 1926 aus seiner Berechnung des Verlaufs von Elektronenbahnen in axialsymmetrischen magnetischen Feldern abgeleitet daß solche z. B. durch stromdurchflossene Spulen erzeugte Felder Strahlenbündel von Elektronen nach analogen Gesetzen sammeln müssen wie Glaslinsen die sie durchsetzenden Bündel von Lichtstrahlen. Versuche von H.Busch, die aus seinen Berechnungen gefolgerte, aus der Lichtoptik bekannte Abbildungsgleichung aus eigenen, schon 1910 durchgeführten Experimenten durch die Abbildung des elektronenemittierenden Bereichs der Kathode mit Hilfe des Magnetfelds einer Spule nachzuweisen, konnten diese allerdings noch nicht genügend bestätigen. Daß axialsymmetrische Magnetfelder ein längs ihrer Achse verlaufendes, divergentes Elektronenbündel wieder konvergent machen und insofern mit Glaslinsen vergleichbar sind, war schon 1896 von H. BIRKELAND und J. W. HITTORF erkannt worden, und R. RANKIN hatte 1905 als erster eine Stromspule zur Bündelung des Elektronenstrahls in einer BRAUNschen Röhre benutzt. 

In der von M. KNOLL betreuten Arbeitsgruppe sollte sich E. RUSKA mit der optimalen Dimensionierung von Katodenstrahloszillographen befassen; hierfür war der Querschnitt des Elektronenstrahls auf dem Leuchtschirm des Oszillographen eine Schlüsselgröße. Da er von der konzentrierenden Wirkung der "Sammelspule" des Oszillographen abhing, versuchte E. RUSKA, die sich aus den Rechnungen von H. BUSCH für Elektronen ergebenden optischen Abbildungsgleichungen unter verbesserten Versuchsbedingungen nachzuweisen. Dies gelang ihm in seiner im Mai 1929 vorgelegten Studienarbeit "über eine Berechnungsmethode des Kathodenstrahloszillographen auf Grund der experimentell gefundenen Abhängigkeit des Schreibfleckdurchmessers von der Stellung der Konzentrierspule". Nach Abschluß seiner im Dezember 1930 vorgelegten Diplomarbeit Über eine elektrische Linse für Elektronenstrahlen versuchte er, gemeinsam mit M. KNOLL, 1931 mit Erfolg, elektronendurchstrahlte Blenden und Metallnetze mit Hilfe magnetischer und elektrischer Elektronenlinsen in ein und zwei Vergrößerungsstufen abzubilden. 

Anfang 1931 entstand das erste Elektronenmikroskop mit zwei noch nicht mit Eisen umn1antelten Stromspulen als Objektiv und Projektiv. 

Am Dienstag, dem 7. April 1931, erzielten M. KNOLL und E. RUSKA nahezu auf Anhieb die erste zweistufige Abbildung bei einem Abbildungsmaßstab von 16: 1, mit einem Platindrahtgitter als Objekt. 

In den darauf folgenden Wochen hatte jeder Interessierte die Möglichkeit, das erste Elektronenmikroskop in Augenschein zu nehmen. Da die mit ihn1 durchgeführten elektronenoptischen Untersuchungen für die Technologie von Elektronenstrahloszillographen von Bedeutung waren, kamen als Besucher auch Wissenschaftler, die beruflich mit dieser Meßtechnik zu tun hatten. Unter ihnen war der mit M. KNOLL befreundete M. STEENBECK, der ein Mitarbeiter von R. R†DENBERG war und diesen Über seinen Besuch unterrichtete . . . Am Samstag, dem 30. Mai 1931, ging beim Deutschen Patentamt in Berlin eine Patentanmeldung von R. R†DENBERG ein - DRP 895635 -, in der die Möglichkeit dargelegt wird, mit Hilfe elektrostatischer und -magnetischer Linsen einen Elektronenstrahl so zu beeinflussen, daß Vergrößerungen erzielt werden, die mehrere Größenordnungen Über denen liegen, die mit dem Lichtmikroskop erzielbar sind, wobei zugleich die bei diesem durch die Wellenlängen des sichtbaren Lichts bedingte Begrenzung des Auflösungsvermögens entfällt. R. RÜDENBERG war der erste, der um Patenterteilung für ein Elektronenmikroskop nachgesucht hat - an seiner technischen Entwicklung war er jedoch nicht beteiligt. 

Am Donnerstag, dem 4. Juni 1931, hielt M. KNOLL in der Abteilung für technische Physik", die von C. J. CRANZ geleitet wurde, im Rahmen des sogenannten CRANZkolloquiums einen Vortrag zum Thema "Berechnungsgrundlagen und neuere Ausführungsformen des Kathodenstrahloszillographen", in dessen Verlauf er in einem Abschnitt Über "Das optische Verhalten von Elektronenstrahlen" die von E. RUSKA mit seinen Versuchsanordnungen erzielten Ergebnisse eingehend erläuterte; bei dieser Gelegenheit wurden auch Diapositive von den mittels zweier magnetischer Linsen erzielten vergrößerten Bilder elektronendurchstrahlter Metallnetze gezeigt. 

Mit vollem Recht darf und muß daher spätestens der 4. Juni 1931 als der Geburtstag des Elektronenmikroskops bezeichnet werden, dessen Idee und erste Verwirklichung wir M. KNOLL und E. RUSKA verdanken (Abb. 1). 

Am 10. September 1931 legten M. KNOLL und E. RUSKA den "Annalen der Physik" eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel "Beitrag zur geometrischen Elektronenoptik" mit einem Abschnitt über das Elektronenmikroskop vor (Abb. 2), die zu Beginn des Jahrs 1932 als 54seitige Veröffentlichung erschienen ist. So selbstverständlich es heute ist, von einem "Elektronenmikroskop" zu sprechen, so sehr zögerten damals M. KNOLL und E. RUSKA, wie sie später bestätigten, bei der Namengebung für das von ihnen geschaffene Instrument - denn noch war das Auflösungsvermögen des Lichtmikroskops nicht überboten worden. Das konnte allenfalls gelingen, wenn man Objekte bei wesentlich höherem Abbildungsmaßstab als dem förderlichen des Lichtmikroskops abbildete. Hierzu benötigte man Elektronenlinsen genügend kurzer Brennweite. 

E. RUSKA hatte schon in seiner Studienarbeit von 1929 festgestellt, daß man eine kürzere Brennweite erhält, wenn man das Magnetfeld der Spule auf einen kleineren Achsenbereich zusammendrängt; um das zu erreichen, hatte er schon damals vorgeschlagen, die Spule in einen Eisenmantel einzuschließen, der nur im inneren Rohrstück durch einen in axialer Richtung kurzen, ringförmigen und eisenfreien Spalt unterbrochen ist. 

Eine weniger vollständige Eisenummantelung der "Konzentrierspule" eines von ihm entwickelten Katodenstrahloszillographen hatte D. GABOR [g a:ba:] 1927 beschrieben. Bei dieser Maßnahme ging es GABOR aber nicht darum, den Feldverlauf in der Spule auf einen kleinen Achsenbereich einzugrenzen, um kurze Brennweiten zu erzielen. 

Der Ringspalt sollte, wie in der später vollzogenen Patentanmeldung - DRP 680284, vom 16.03.32 - vorgeschlagen, in ringförmigen Polschuhen enden. 

1933 baute E. RUSKA ein zweites Elektronenmikroskop, mit dem Objekte mittels so ausgebildeter Polschuhlinsen abgebildet wurden. Durch dieses Gerät wurde "die für magisch gehaltene Grenze" (E. RUSKA) des förderlichen lichtmikroskopischen Abbildungsmaßstabs mit 12000:I weit übertroffen - und ein Auflösungsvermögen von 50 nm erreicht. Dieses Gerät, zu Recht "Übermikroskop" genannt, verfügte über Kondensor, Objektiv und Projektiv und hatte eine Objektwechselkammer. 

E. RUSKA machte mit seinem Übermikroskop zwei Beobachtungen, die für dessen weitere Entwicklung von weitreichender Bedeutung waren: in das Gerät eingeschleuste Baumwollfasern verkohlten im Elektronenstrahl, und Helligkeitsunterschiede im Bild sehr dünner Objekte konnten nicht erst durch Strahlelektronenabsorption hervorgerufen werden, sondern mußten bereits die Folge unterschiedlich starker Streuung sein. Daraus war der Schluß zu ziehen, daß dünne Objekte verhältnismäßig wenig aufgeheizt und hinreichenden Kontrast liefern würden. 

In der Geschichte der Elektronenmikroskopie ist das Jahr 1933 zugleich ein Höhepunkt ihrer Entwicklung - und ihr Stillstand: B. v. BORRIES mußte Ende Februar 1933 "aussteigen", M. KNOLL war bereits im April 1932 in die Industrie Übergewechselt und hatte sich der Fernsehtechnik zugewandt. Am 31. August 1933 legte E. RUSKA seine Dissertation mit dem Titel über ein magnetisches Objektiv für das Elektronenmikroskop", am 12. Dezember desselben Jahrs die Arbeit "Über Fortschritte im Bau und in der Leistung des magnetischen Elektronenmikroskops" vor; er mußte dann aber, da keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung standen, weitere Arbeiten am Elektronenmikroskop einstellen; das Jahresende 1933 sah ihn mit der Entwicklung von Bildröhren in der Industrie beschäftigt. 

Als die weltwirtschaftlichen Verhältnisse die kleine Arbeitsgruppe, die mit der Erstellung eines arbeitsfähigen, seinen theoretisch zu erwartenden Leistungsgrenzen näherkommenden Geräts beschäftigt war, in alle Winde zerstreute, verlagerte sich ein Teil der weiterführenden Arbeiten ins Ausland: in Brüssel baute L. MARTON 1933/ 1934 sein erstes und 1936 sein zweites Durchstrahlungs-Elektronenmikroskop mit Magnetlinsen; er fand heraus, daß biologische Objekte durch Behandlung mit bestimmten Schwermetallverbindungen dem Elektronenstrahl trotz Verkohlung widerstanden und daß auch unbehandelte Objekte hinreichenden Kontrast lieferten. 

In dieser Zeit wurde E. RUSKAS hochvergrößerndes Gerät wenigstens von Studenten benutzt und auch noch etwas verbessert. E. DRIEST und H. O. MÜLLER erhielten, nachdem sie das Gerät für Innenaufnahmen umgebaut hatten, Ende 1934 die ersten Bilder von unpräparierten biologischen Objekten, nämlich von Beinen und Flügeln der Hausfliege. 1936/37 konnte F. KRAUSE an Bildern von Diatomeen zeigen, daß das Auflösungsvermögen des Lichtmikroskops - auch an Hand der Abbildungen von Gittern beurteilt sicher übertroffen war, und erhielt, zur gleichen Zeit wie L. MARTON, Bilder von chemisch vorbehandelten und unbehandelten höheren Zellen und Bakterien. 

Während der aufgezwungenen Beschränkung auf das rein Theoretische waren jedoch E. RUSKA, sein jüngerer Bruder, der Mediziner H. RUSKA, und B. v. BORRIES ständig bemüht, durch Gespräche insbesondere mit Medizinern und Biologen, herauszufinden, welche Aussichten diese wohl dem Elektronenmikroskop als einem sehr verlängerten Arm des Lichtmikroskops gaben. Die Einwände waren zum Teil schwerwiegend und durch das bislang Erreichte nicht ohne weiteres zu entkräften. 

R. SIEBECK, Direktor der Ersten Medizinischen Universitätsklinik zu Berlin und damaliger Lehrer von H. RUSKA, hat der Weiterentwicklung des Elektronenmikroskops einen ganz entscheidenden Dienst erwiesen: er erstellte, als Fachvertreter der Inneren Medizin ein Gutachten, in dem er aufzeigte, daß das Elektronenmikroskop zur Erarbeitung neuer Erkenntnisse in Biologie und Medizin wahrscheinlich entscheidende Beitrage liefern würde. Daraufhin verliefen 1936 schon früher begonnene Verhandlungen mit den Firmen Carl Zeiss, Jena, und Siemens, Berlin, erfolgreich: sie sagten zu, die Entwicklung des Durchstrahlungs-Elektronenmikroskops voranzutreiben. 

Das erste serienmäßig gefertigte Elektronenmikroskop der Welt verließ Ende 1939 die Firma Siemens und wurde in der "I. G. Farbenindustrie AG", Werk Höchst, aufgestellt. Dieses Gerät hatte Anfang 1938 ein Laboratoriumsgerät zum Vorläufer. Beide Geräte wurden von B. v. BORRIES und E. RUSKA entwickelt. Mit dem Laboratoriumsgerät hat H. RUSKA schon Ende der dreißiger Jahre eine Fülle außergewöhnlicher Ergebnisse erarbeitet: so gelang es ihm z.B. erstmals, Coliphagen darzustellen, ein Ergebnis, das vielleicht die schönste Genugtuung für die Männer gewesen ist, die in dem Zeitraum von l931 bis l936 so große Hoffnungen in ein völlig ungewöhnlich entworfenes Instrument der Forschung gesetzt hatten. 

Hier soll die Geschichte der Entwicklung des Durchstrahlungs-Elektronenmikroskops mit Magnetlinsen abgebrochen werden. Über dem, was seit 1939 geschehen ist, liegt kein so dichter Schleier mangelhafter Informationen, wie er für allzu viele noch über dem Beginn der Elektronenmikroskopie ruht. Die Reihen der Männer der ersten Stunde haben sich bereits sehr gelichtet, die Reihen derer, die aus ihrem Mund noch die sehr erstaunlichen Ereignisse erfahren durften, sind nicht sehr dicht. 

1929 bereits hatte sich M. KNOLL in einer Patentanmeldung mit der elektrostatischen Linse beschäftigt - DRP 690809, vom 10. 11. 1929. Die elektronenoptischen Eigenschaften der elektrostatischen Linse wurden in dem von C. RAMSAUER geleiteten Forschungsinstitut der AEG in Berlin-Reinickendorf von 1930 an von E. BRÜCHE und seinen Mitarbeitern H. JOHANNSON und O. SCHERZER untersucht. 1939 veröffentlichten aus diesem Forschungsinstitut H. MAHL und H. BOERSCH zwei erste, voneinander verschiedene Formen von Durchstrahlungs-Elektronenmikroskopen mit elektrostatischen Linsen. Die Entwicklungsarbeiten an diesem Elektronenmikroskoptyp wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von H. MAHL, zuletzt im Laboratorium für Elektronenoptik der Firma Carl Zeiss, Oberkochen, weitergeführt. Jedoch wurde dieser Elektronenmikroskoptyp etwa zwei Jahrzehnte später zugunsten der Geräte mit magnetischen Linsen aufgegeben, die, bei erheblich leichterer Bedienbarkeit, ein merklich besseres Punktauflösungsvermögen besitzen. Diese Geräte in dieser letztlich entscheidenden Eigenschaft überflügeln zu wollen, war ein hoffnungsloses Unterfangen, da die elektrostatischen Linsen größere Konstanten des Öffnungs- und des Wellenbereichfehlers haben. überdies eignen sie sich auch nicht für Strahlenelektronen, die mit Beschleunigungsspannungen wesentlich über 50 kV beschleunigt werden, wie sie heute gang und gäbe sind. 

Das Durchstrahlungs-Elektronenmikroskop mit magnetischen Linsen in der Form von Polschuhspulen, dessen Grundlagen von 1929 bis 1933 von E. RUSKA, M. KNOLL und B. v. BORRIES geschaffen worden sind, ist heute das Instrument der Wahl, wenn Wissenschaftler darangehen, die Natur im Bereich ihrer Feinstrukturen mit Hilfe von Experimenten zu befragen.