16. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

9.-11. März 2001, Stuttgart

Antrag des Bundesvorstandes zur Einwanderungspolitik:
Multikulturelle Demokratie

 

Grüne Einwanderungspolitik:
Kultureller Pluralismus und Integration

Die Gestaltung von Einwanderung gehört zu den zentralen politischen Fragen der nächsten Jahre. Wer über Einwanderung redet, spricht über die Zukunft Deutschlands und Europas.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das Grundgesetz garantiert die kulturelle Freiheit aller hier Lebenden. Die damit verbundene kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung der Bundesrepublik.

Jahrelang sperrten sich CDU/CSU aber auch Teile der SPD und der FDP wider besseren Wissens gegen eine Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland. Die Gestaltung des Zusammenlebens wurde damit verhindert. Heute bestreitet keine demokratische Partei mehr ernsthaft, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist. Der Streit geht darum, welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind.

Sollen wir Einwanderung gestalten? Oder soll die Zuwanderungspolitik Abschottung organisieren?

Von Zuwanderung zu reden und Abschottung zu signalisieren ist die Politik von CDU und CSU. Der in ihrem Einwanderungspapier hochgehaltene Begriff der Leitkultur setzt andere Kulturen herab. Mit seinem ausdrücklichen Bezug auf das christliche Abendland werden jüdische und muslimische Überzeugungen und atheistische Kulturen aus der hochgehaltenen nationalen Identität ausgegrenzt. Im Kern geht es CDU und CSU darum, Zuwanderung ausschließlich zu begrenzen. 

Dem setzen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN entgegen: Wir brauchen Einwanderung, wir wollen sie und wir machen Vorschläge zu ihrer steuernden Gestaltung. 

Gestaltung von Einwanderung: multikulturelle Demokratie

Das Grundgesetz kennt keine Leitkultur, sondern setzt im Gegenteil auf Toleranz, gleiche Rechte und Pflichten für alle, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes leben. 

Wir wissen, dass die Gestaltung von Einwanderung komplex und schwierig ist. Sie beinhaltet aber eine große Chance, nämlich die der Weiterentwicklung der kulturellen Vielfalt, kurz: der multikulturellen Gesellschaft.

Seit langem haben wir die gesellschaftliche Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft , die kulturelle Öffnung unter den Begriff Multikulti subsumiert.

Die multikulturelle Gesellschaft hat eine positive Dimension, weil sie die selbstverständliche kulturelle Freiheit jedes Einzelnen bekräftigt, eine Differenzierung zulässt und sich abgrenzt, beispielsweise zu der Idee einer deutschen Leitkultur, die zur Assimilation und Unterordnung verpflichten will.

Zur gesellschaftlichen Perspektive einer pluralistischen, multikulturellen Einwanderungsgesellschaft gehört aber auch die politische Zielvorgabe. Dazu braucht es ein einigendes Band, das die gemeinsamen Regeln des Zusammenlebens beschreibt. 
Dieses einigende Band sind die zentralen Werte der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der europäischen Verfassungstradition und unseres Grundgesetzes:
Demokratie, Gleichheit aller Menschen und Gleichheit der Geschlechter.

Zur Gestaltung von Einwanderung gehören deshalb zwingend mehrere Aspekte, nämlich sowohl Pluralismus der Kulturen als auch Integration und die Vereinbarung und Einhaltung grundlegender Regeln des Zusammenlebens.
Die Verbindung der beiden Felder der gesellschaftlichen und politischen Gestaltung von Einwanderung, die Verbindung der Begriffe Demokratie und multikulturelle Gesellschaft heißt: Multikulturelle Demokratie

 

 
Ziele grüner Migrationspolitik

Wir wollen mit der Migrationspolitik folgende Ziele verfolgen: 

  • Einwanderung ermöglichen und im Rahmen des Gesetzes regulieren und entwickeln
  • Das Asylrecht schützen und die Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisengebieten gewährleisten
  • Integrationsangebote für alle Zuwanderer und Zugewanderten schaffen
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN wollen eine Einwanderungspolitik gestalten, die diesen Kriterien folgt und damit eine Bereicherung für das ganze Land wird. Wir wollen eine offene gesellschaftliche Debatte über alle Aspekte der Einwanderung führen. Deshalb setzen wir uns für eine sachliche Debatte über ein Einwanderungsgesetz ein. 

Gründe für Einwanderung

Gegenwärtig hat die Bundesrepublik etwa 82 Millionen Einwohner. Bis zum Jahr 2020 wird die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik auf 80,3 und bis zum Jahr 2050 auf 70 Millionen sinken. 
Aus dieser Veränderung des Bevölkerungsaufbaus müssen Konsequenzen gezogen werden. Für die bereits eingeleitete Rentenreform, aber auch für die Arbeitsmarktpolitik, die Sozialen Sicherungssysteme und die Einwanderungs- und Integrationspolitik stellen sich damit neue Herausforderungen. 
Die deutschen Interessen in der Einwanderungspolitik sind vielfältig 
Die deutsche Wirtschaft meldet trotz hoher Arbeitslosigkeit vom Handwerk bis zum IT-Business in vielen Bereichen zusätzlichen Bedarf an. Auch in der Pflege werden zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht werden. Unsere Chancen im internationalen Wettbewerb und bei der Erhaltung der sozialen Standards ist deshalb von der Zuwanderung insbesondere junger Menschen abhängig. Hierfür fehlt zur Zeit eine systematische Rechtsgrundlage, die wir dringend schaffen müssen.
Jeder Staat behält sich das Recht vor, aus politische Überlegungen heraus oder aufgrund von historischen Verpflichtungen Menschen aufzunehmen, die keinen direkten Rechtsanspruch auf Aufnahme haben. In Frankreich werden Algerier, in Portugal Osttimoresen und durch die Europäische Union Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen. Auch hierfür gibt es in Deutschland keine systematische und transparente Rechtsgrundlage. Auch an diesem Punkt muss systematisiert werden.
Einwanderungspolitik hat viele gute Gründe: neben den wirtschaftlichen Gründen, gibt es also humanitäre, ebenso wie kulturelle und bildungspolitische Motive, aber auch das Interesse am Frieden in Europa und der Welt und am internationalen Konsens. 

 

 
Die drei Säulen der Einwanderungspolitik

Einwanderung nach Deutschland ist entlang von drei Säulen zu gestalten:

  1. die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen, insbesondere zur Deckung von Bedarf an Arbeitskräften
  2. die Aufnahme aus politischen und humanitären Gründen.
  3. die Aufnahme aufgrund von Rechtsansprüchen, z.B. Asyl, Familiennachzug 
Das in der Einwanderungsdebatte häufig diskutierte Mittel einer Gesamtquote, die alle Bereiche der Einwanderung erfassen soll, ist zu starr und unflexibel und daher ein untaugliches Gestaltungselement und nicht anwendbar beim Asylrecht. 

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten ein für eine klare Unterscheidung der genannten drei Säulen der Einwanderung:
Die Aufnahme aufgrund von Rechtsansprüchen , also der Säule 3, lässt sich nicht quotieren. Sowohl der Familiennachzug, als auch die Asylgewährung oder die Freizügigkeit innerhalb der EU sind abhängig von Vorgaben, die politisch nicht beliebig änderbar sind. Die existenten Rechtsgrundlagen schaffen rechtlich durchsetzbar Ansprüche.

Anders stellt sich die Situation bei den Säulen 1 und 2 dar. Die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen, insofern sie aus Nicht-EU-Staaten erfolgt, ist im hohen Maße politsch steuerbar. Genauso verhält es sich mit der Aufnahme aus politischen oder humanitären Gründen.

Säule 1 : Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen

Arbeitskräftezuwanderung braucht demokratischen Konsens und flexible Quoten. Wir wollen zudem ein Verfahren schaffen, das die Entscheidung über die Zuwanderung in dieser ersten Säule transparent gestaltet.

Durch die gesetzliche Regelung der Einwanderung muß ein flexibles Reagieren auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedarfe der Gesellschaft ermöglicht werden. 

Wir schlagen deshalb für wirtschaftliche Einwanderung flexible Instrumente z.B. Detailquoten oder Anreizmodelle, vor. 
Die Bedarfe werden nach einem abgestuften Verfahren alle zwei Jahre festgestellt. Dabei werden im Vorfeld der Entscheidungen die gesellschaftlichen Interessengruppen konsultiert. Der Bundestag und Bundesrat werden am Verfahren beteiligt. 
Ein breiter gesellschaftlicher Konsens und eine öffentlich nachvollziehbare Diskussion kann so sichergestellt werden.

Die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen muss auf Dauer angelegt sein. Im globalen Wettbewerb um Menschen mit besonderen Qualifikationen wird Deutschland nur erfolgreich sein, wenn wir Zuwanderern eine dauerhafte Lebensperspektive bieten. Auch die Integrationsbereitschaft von Zuwanderern ist fundamental davon abhängig. Das Modell des "Rotationsprinzips" ist gescheitert. Die Fehler der "Gastarbeiterpolitik" der vergangenen Jahrzehnte mit den heute noch bestehenden fatalen integrationspolitischen Folgen dürfen sich nicht wiederholen.

Säule 2: Aufnahme aus politischen und humanitären Gründen

Für die Aufnahme aus politischen und humanitären Gründen braucht es ebenfalls ein transparentes Verfahren. 

In festgelegten Zeiträumen werden unter Beteiligung des Bundestages und des Bundesrates, Kontingente für Gruppen deren langfristiger Zuzug erwünscht ist, festgelegt. Bei diesen Gruppen handelt es sich beispielsweise um Kontingentzuwanderer, aber auch um Spätaussiedler. 

Die aktuelle Entscheidung über die aktive Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen oder Opfern von Umweltkatastrophen etc. obliegt der Exekutive. 

Wer über Einwanderung spricht wird auch über diejenigen reden müssen, die seit vielen Jahren "illegal", geduldet oder ungesichert in der Bundesrepublik leben. Das Angebot der Legalisierung und Verstetigung ihres Aufenthaltes und auch das Angebot der deutschen Staatsangehörigkeit wäre der Beginn einer modernen Einwanderungspolitik in Deutschland. 

 

 
Säule 3: Aufnahme aufgrund von Rechtsansprüchen

Familiennachzug und Asyl sind individuelle einklagbare verfassungsrechtliche und gesetzliche Ansprüche. Auch die Binnenwanderung von Arbeitnehmern und Dienstleistern in der EU basiert auf Rechtsansprüchen, die durch nationale Rechtsetzung nicht zu relativieren und einer Quote nicht zugänglich sind. 

Familienangehörige
Der Zuzug von Menschen durch Familiennachzug ist Grundlage für ein selbstbestimmtes Familienleben und eine maßgebliche Voraussetzung für Integration. Die bisherige Regelung zum Familiennachzug ist aufgrund des veränderten gesellschaftlichen Familienbildes zu überarbeiten. 

Wir unterstützen die Vorschläge der EU-Kommission zur Festlegung erweiterter Möglichkeiten beim Familiennachzug und das Ziel der weitgehenden Gleichstellung von Drittstaatern mit EU-BürgerInnen.

Dieser Gleichheitsgrundsatz soll auch für dauerhaft aufgenommene Flüchtlinge nach der Genfer Konvention und mit subsidiären Schutzstatus gelten.

Asylrecht
Wir stehen zum Grundrecht auf Asyl. Der Schutz politisch Verfolgter muss auf einem individuellen, rechtsstaatlichen Verfahren beruhen, wie es das Grundgesetz und die Genfer Konvention vorsehen. Dazu gehört die Überprüfung der Verwaltungsentscheidungen durch eine unabhängige Instanz. 

Wir setzen uns dafür ein, dass in Zukunft auch nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung im Rahmen von Bürgerkriegen, geschlechtsspezifische Verfolgung, erlittene Folter und Misshandlung zur Gewährung von Asyl führen, wie es in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist.

Die Anerkennungsverfahren müssen verbessert und der Flüchtlingsstatus muss in rechtlichen und sozialen Bewertungen vereinheitlicht werden.

Integration
Staat und Politik haben die wichtige Aufgabe, die Bereitschaft zur Integration auf beiden Seiten nachhaltig zu stärken. Integration darf nicht der Zwang zur Assimilation sein. Voraussetzung für gelungene Integrationsprozesse ist die allgemeine Anerkennung der grundlegenden Werte, wie sie in unserer Verfassung festgelegt sind. Das gilt allerdings nicht nur für Zuwanderer, sondern auch für Deutsche. Die rechtsradikale Gewalt zeigt, dass dies leider nicht selbstverständlich ist. 

Auch die Möglichkeit zur Verständigung, also das Erlernen der deutschen Sprache ist von entscheidender Bedeutung für die Erfolgschancen zugewanderter Menschen. Ziel gelungener Integration ist gegenseitiges Kennenlernen, ist die Bildung einer gemeinsamen Gesellschaft auf der Grundlage von Gleichberechtigung und der im Grundgesetz verankerten Werte, der Erhalt wie auch die gegenseitige Beeinflussung vielfältiger kultureller Traditionen und die Entwicklung einer gemeinsamen Praxis von Toleranz und Anerkennung. 

Bildungsoffensive: Sprache und berufliche Qualifikation
Gute Sprachkenntnisse sind eine Schlüsselqualifikation für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, für den schulischen und beruflichen Erfolg. 
Wer Einwanderung gestalten will, muß vom Kindergarten bis zu den Universitäten den Erwerb dieser Qualifikationen betreiben. 
Die Investition in Sprachfähigkeit ist eine Investition in gesellschaftliche Integration. 

Die Bemühungen um Integration müssen zukünftig wesentlich besser koordiniert und verstärkt werden. Länder und Kommunen müssen deshalb schon für den Besuch von Kindergärten werben, dort sprachliche und interkulturelle Angebote vorweisen, damit Defizite bei Beginn des Schulbesuchs nicht mehr existieren. 
Für alle Zuwanderungsgruppen müssen Integrationschancen geschaffen werden. Sinnvoll sind umfassende Sprach- und Orientierungskurse in der ersten Phase des Aufenthaltes, die allen Zugewanderten angeboten werden. Dieses Angebot ist mit Anreizen zu verbinden.

Die Rolle der Frauen als Muliplikatorinnen wird oftmals weit unterschätzt. Mit Hilfe der Selbstorganisation von Vereinen etc. muss auch für diese z.B. Sprachunterricht angeboten werden. 

Für die schon hier lebenden MigrantInnen, gerade für die zweite und dritte Generation, brauchen wir dringend eine Bildungs- und Qualifizierungsoffensive. Beispielsweise müssen Ausbildungsverbünde zur Sicherstellung von beruflichen Abschlüssen bei jungen MigrantInnen geschaffen werden. Die Wirtschaftskraft von MigrantInnen wird bisher nur wenig genutzt. 

Die Chancen von Zuwanderern und ihren Kindern, ihre Bildungs- und Berufschancen müssen im Sinne der Chancengleichheit deutlich verbessert werden. Dazu gehört auch ein erleichterter Zugang zum Arbeitsmarkt für alle Zuwanderer.

Aktive politische Teilhabe 
Eine gute Bildung, Ausbildung oder beruflicher Erfolg allein garantiert jedoch nicht eine hohe Identifikation mit dem Lebensmittelpunkt, bedeutet noch nicht eine staatsbürgerliche Integration oder tatsächliche gesellschaftliche Teilhabe. Nur wer sein Lebensumfeld aktiv mitgestalten kann, kann Identifikation entwickeln. 

Politische Integration, verstanden als Zustimmung zur politischen und rechtlichen Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates, setzt Beteiligungsrechte voraus - auch für MigrantInnen. Unser Ziel ist die Schaffung gleicher Rechte für alle Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten deshalb ein für die Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten und die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und Gremien. Dazu gehören das Wahlrecht und die Einbeziehung von Vereinen in die Meinungsbildung und Gesetzgebung. Die Erfahrungen mit dem kommunalen Ausländer-Wahlrecht in den Niederlanden und Dänemark zeigen, dass es integrationspolitisch sinnvoll ist, über das menschenrechtlich verbriefte Recht der freien Meinungsbildung und Vereinigungsfreiheit hinaus politische Partizipation zu ermöglichen.
Minderheiten müssen sich wirksam gegen Diskriminierung wehren können. Dafür brauchen wir ein Anti-Diskriminierungsgesetz. 

Öffentliche Verwaltungsaufgaben müssen im Zuge einer bürgernahen Verwaltung in Zukunft auch stärker von MigrantInnen erledigt werden können. Sie müssen in den Öffentlichen Dienst einbezogen werden. 

Für BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN setzt Integration zwingend Teilhabe voraus: an Bildung, am gesellschaftlichen Leben und an der Gestaltung des Gemeinwesens.

 

 

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